8. Jan. 2025
DGP - Wer möchte nicht alt werden, und dabei möglichst lange gesund bleiben? Die sogenannten „Blue Zones“ scheinen ein Hort der ewigen Jugend zu sein. Sie bezeichnen fünf Weltgegenden, in denen es besonders viele über Hundertjährige geben soll, die körperlich und mental fit geblieben sind. Was diese Orte vereint? Die dort wohnenden Langlebigen bewegen sich viel an der frischen Luft, essen moderat, vor allem Gemüse und Hülsenfrüchte, trinken wenig bis kaum Alkohol, geben dem Familien- und Gemeinschaftsleben einen hohen Stellenwert.
So allgemein dieses Rezept auch klingt, so gut lässt es sich vermarkten. Aber hält es auch einer genaueren Überprüfung statt? Saul Justin Newman, der an der University Oxford und am University College London forscht, erhielt vor kurzem den Ig-Nobelpreis für Demographie. Der seit 1991 von der Zeitschrift „Annals of Improbable Research“ an der Harvard-Universität in Cambridge vergebene Preis soll Menschen erst zum Schmunzeln und dann zum Nachdenken anregen. Eine von Newmans Thesen: Es sind besonders viele Hundertjährige dort zu finden, wo Rentenbetrug einfach ist oder Geburtsdaten falsch notiert wurden.
Hundert Jahre alt werden mit Fish & Chips?
Vor kurzem starb ein Mann im englischen Southport im Alter von 112 Jahren.
Besondere Geheimnisse habe er nicht, meinte er, freitags esse er gerne eine
Portion Fish and Chips. Widerspricht das nicht den Arbeiten zu den „Blue Zones“?
Marc Luy: Hundertjährige gibt es überall, nicht nur in den „Blue Zones“, unter
denen auch einige nicht unbedingt den gesündesten Lebensstil pflegen. Die
Französin Jeanne Calment wurde 122 Jahre, das ist mit Abstand das höchste Alter,
das jemals aufgezeichnet wurde. Und sie war bis weit über Hundert eine
Raucherin. Auch Helmut Schmidt, den ehemaligen deutschen Bundeskanzler, hat man
nur mit qualmender Zigarette in der Hand gesehen – und er ist 96 geworden. Aber
das sind Einzelfälle, aus denen man keine allgemeine Schlussfolgerung ziehen
kann. Bei diesen Glücklichen steckt eher eine individuelle genetische Komponente
dahinter. In den „Blue Zones“ geht es nicht um Einzelfälle, sondern um einen
außergewöhnlich hohen Anteil derjenigen, die das Alter 100 erreichen.
Wo hat man das zuerst entdeckt?
Luy: Kurz vor der Jahrtausendwende sind in einer Studie des italienischen
Mediziners Gianni Pes zur Langlebigkeit auf Sardinien bestimmte Regionen mit
einer besonders hohen Konzentration an Hundertjährigen aufgefallen. Bereits
damals gab es große Skepsis, ob man diesen Daten trauen kann. Es ist also keine
neue Tendenz, zu hinterfragen, wie verlässlich besonders hohe Altersangaben
sind. Mein Demographie-Kollege Michel Poulain aus Belgien hat dann in den
Folgejahren diese Daten vor Ort überprüft und bestätigt. Ich kenne ihn sehr gut
und bin überzeugt, dass er diese Arbeit akribisch durchgeführt hat. Aber
natürlich kann man letztlich nie beweisen, ob die Geburtsurkunde, die jemand in
der Hand hält, auch tatsächlich zur jeweiligen Person gehört.
Zweifel an den Blue Zones
Welche Ungereimtheiten gibt es noch?
Luy: Da gibt es vor allem das Missverständnis in der Interpretation der
Studienergebnisse zu den „Blue Zones“. Sie werden immer so dargestellt, als ob
in diesen Regionen die Lebenserwartung insgesamt besonders hoch wäre. Aber das
muss nicht so sein: Der Anteil an Personen, die das Alter 100 erreichen,
bedeutet nicht, dass auch die Lebenserwartung der gesamten dort lebenden
Bevölkerung besonders hoch sein muss. Theoretisch könnte die Lebenserwartung bei
Geburt sogar auf einem geringen Niveau liegen. Das gilt übrigens auch umgekehrt,
wie man zum Beispiel an unserer Klosterstudie sehen kann, die wir an der ÖAW in
einem Langzeitprojekt durchführen. Obwohl die Ordensleute, vor allem die Männer,
eine sehr hohe Lebenserwartung haben, ist der Anteil der Hundertjährigen in den
Klöstern eher unterdurchschnittlich.
Heißt das, dass die Studien zu den „Blue Zones“ gar keine Bedeutung
haben?
Luy: Es gibt tatsächlich viele Gründe, warum man die „Blue Zones“ als
Langlebigkeitsinseln wissenschaftlich anzweifeln kann. Hinzu kommt, dass die
Faktoren, die in diesen Studien als Ursache für die dortige Langlebigkeit
beschrieben werden, alles andere als spektakulär sind: körperliche Aktivität,
gesunde Ernährung, aber nicht zu viel essen, Stress vermeiden, persönliche
Beziehungen pflegen, einen Sinn im Leben sehen. Interessanterweise fehlt hier
mit dem Rauchen der größte Killer unserer Zeit. Das liegt meines Wissens daran,
dass der Zigarettenkonsum in den „Blue Zones“-Studien nicht erfasst wurde. Davon
abgesehen sind es aber die gleichen Determinanten der Langlebigkeit, die auch in
unzähligen anderen Forschungen zur Gesundheit dargestellt wurden. Was den „Blue
Zones“-Studien aber eine besondere Bedeutung gibt, ist, dass sie von sehr vielen
Menschen wahrgenommen werden, weil die Lebensgeschichten und Bilder der aktiven
Hundertjährigen berühren. Sie bringen uns dazu, über die eigene Gesundheit
nachzudenken. Und zu erkennen, dass wir viel mehr für die Erhaltung der
Gesundheit in der eigenen Hand haben, als oft vermutet wird.
Rezept für ein langes Leben
Aber wird mit den „Blue Zones“nicht ein modernes Märchen verkauft, dass Menschen
aus armen Regionen alt und glücklich werden? Dabei zeigen Statistiken doch auch,
dass wohlhabende Menschen eine höhere Lebenserwartung haben.
Luy: Die Menschen in höheren sozialen Schichten leben im Durchschnitt vor allem
wegen derselben Lebensstil-Faktoren länger, die ich eben genannt habe. Hinzu
kommt, dass sie aufgrund des höheren Bildungsabschlusses über mehr Wissen und
auch die finanziellen Möglichkeiten verfügen, um besser auf sich und ihre
Gesundheit zu achten. In den „Blue Zones“ leben die Menschen hingegen nicht
bewusst so gesund. Sie wurden gewissermaßen in diesen Lebensstil hineingeboren.
Das waren arme Regionen mit überwiegend Vieh- und Landwirtschaft, was viel
körperliche Tätigkeit an der frischen Luft mit sich brachte. Sie nahmen
unbehandelte Lebensmittel zu sich, weil sie nichts anderes hatten. Es gab kein
Fast Food-Restaurant, das man hätte vorziehen können. Aktuelle Berichte aus den
„Blue Zones“ deuten darauf hin, dass durch den zunehmenden Einfluss der modernen
Gesellschaft die außergewöhnliche Langlebigkeit nun verschwunden ist. Es gibt
mehr industriell gefertigte Nahrungsmittel, die Menschen fahren mit dem Auto zum
Supermarkt, sie bewegen sich weniger und so weiter.
Was ist Ihrer Meinung nach das Rezept für Langlebigkeit?
Luy: Nach über 25 Jahren in der Langlebigkeitsforschung gelange ich immer mehr
zu der Überzeugung, dass es den so oft gesuchten Schlüssel zu einem langen und
gesunden Leben nicht gibt, der alles andere ausgleicht. Aus meiner Sicht geht es
vielmehr darum, Risikofaktoren für die Gesundheit zu vermeiden. Es wird nicht
genügen, zum Beispiel jeden Tag einen Apfel zu mir zu nehmen, und dafür kann ich
dann rauchen, Alkohol trinken und Junkfood essen so viel ich möchte. Bei den
Hochbetagten in den „Blue Zones“ können wir schön sehen, dass Verzicht auf
ungesunde Verhaltensweisen ein guter Weg ist, um lange und gesund zu leben. Wie
auch unsere Klosterstudie zeigt, ist das meiste eben nicht genetisch vorgegeben.
Den größten Teil unserer Gesundheit und Lebenserwartung können wir durchaus
selbst beeinflussen.
Auf einen Blick
Marc Luy ist Direktor des Instituts für Demographie der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Dort leitet er auch die Forschungsgruppe
“Health and Longevity”. Er unterrichtet zudem an der Universität Wien. Eines
seiner bekanntesten Forschungsprojekte ist die Deutsch-Österreichische
Klosterstudie, die die Gesundheit und Langlebigkeit von Ordensleuten untersucht.
© Alle Rechte: DeutschesGesundheitsPortal / HealthCom
Deutsches Gesundheitsportal